LESEPROBE 

 

Am 17. Juli um 9 Uhr betrat der Polizeichef das Polizeigebäude. Er war ein grosser Mann im Alter von 40 Jahren. Er trug einen schwarzen Schnurrbart, der an eine Zahnbürste erinnerte und der – zumindest seiner Meinung nach – sein Gesicht verschönerte. Dieses Gesicht war im Grossen und Ganzen unauffällig, auffällig war einzig eine tiefe Stirnfalte, die sich regelmässig dann bildete, wenn ihm eine Laus über die Leber gekrochen war – und dies war häufig der Fall. 

Der Polizeichef setzte sich auf seinen Bürostuhl, der ein quietschendes Geräusch von sich gab. Lustlos blätterte er in einem Stapel von Briefen, die auf seinem Pult lagen. Die ersten zwei Briefe legte er zur Seite, weil er sie uninteressant fand. Den dritten las er genauer durch, wobei er sich mit seinen Fingern durch das kurze Haar fuhr, das sich bereits gefährlich lichtete.  

Er schürzte die Lippen, als sich die Türe öffnete und ein Mann eintrat. 

«Endlich», knurrte der Polizeichef. Seine Stirnfalte vertiefte sich. 

Der Mann, der eingetreten war, hiess Sergeant Ruddock.  

Ruddock stand im Türrahmen und hielt seinen Helm in der Hand. 

«Entschuldigen Sie, Sir», sagte er und trat auf das Pult zu, an welchem er zu sitzen und zu arbeiten pflegte. 

«Entschuldigen Sie! Entschuldigen Sie!», wiederholte der Polizeichef. «Sie sind fast 10 Minuten zu spät, und das gehört sich nicht. Sie haben pünktlich zu erscheinen. Das wissen Sie sehr genau.» 

Ruddock sagte nichts. 

Der Polizeichef schaute ihn verärgert an. Warum schwieg Ruddock und stand einfach nur da? Immer, wenn man es mit ihm zu tun hatte, verhielt er sich so. Er entgegnete nie etwas, sondern stand immer nur da und sagte nichts. 

«Nun», sagte der Polizeichef schliesslich. «Haben Sie nichts zu sagen?» 

Ruddock war ein drahtiger, mittelgrosser Mann. Er hatte das geradezu absurd rötliche und transparente Gesicht eines Schuljungen.  

«Es tut mir leid», wiederholte der Sergeant. 

«Vielleicht möchten Sie die Güte haben und sich nun doch langsam an Ihre Arbeit machen», fauchte Protheroe. 

«Gewiss doch, Sir. Liegt etwas Besonderes an?» 

Das hätte Ruddock besser nicht gefragt, denn damit berührte er einen wunden Punkt: Protheroe war der Polizeichef von Eastrepps, und Eastrepps war ein kleines, verschlafenes Städtchen am Meer. In der Badesaison waren einige Taschendiebe unterwegs, die die Polizei dingfest machen musste. Ab und an musste die Polizei bei einer Schlägerei eingreifen, und wenn es hoch kam, hatte sie dem Diebstahl eines Fahrrades nachzugehen. Aufregend Dinge jedoch geschahen nie in Eastrepps, und so kam es, dass sich der Polizeichef fürchterlich langweilte. 

Auf die Frage von Ruddock hin verzog der Polizeichef den auch sein Gesicht. 

«Nein», knurrte er. 

Dann jedoch riss er sich zusammen und wandte sich dem Tagesgeschäft zu. Er schaute Ruddock finster an. 

«Haben Sie», meinte er schliesslich in einem vorwurfsvollen Ton, «die Angelegenheit von Richard Prescott angeschaut und auch die kleine Angelegenheit, bei der es um die Vorladung von Richard Prescott geht?» 

«Das habe ich», antwortete der Sergeant. «Ich stattete dem Haus in Sheffield Park gestern einen Besuch ab. Prescott ist weggegangen, und seine Frau weiss nicht, wann er zurückkommt.» 

«Ich will, dass ihm endlich die Vorladung überbracht wird», knurrte der Polizeichef. «Sie gehen noch heute Morgen vorbei und erledigen dies.» 

«Sehr gut», antwortete Sergeant Ruddock. 

Der Polizeichef schaute seinen Untergebenen an. War es denkbar, dass dieser absichtlich in einem sarkastischen Ton antwortete? 

«Der Tagesrapport», sagte Ruddock. 

«Vielen herzlichen Dank», meinte der Polizeichef. «Vielleicht könnte es Ihnen möglich sein, eine Antwort auf die Briefe zu formulieren, die heute eingetroffen sind. Nichts von Bedeutung allerdings. Unter anderem ist da die Sache mit dem Hund der Jenkinson. Die Frau, die den Brief geschrieben hat, behauptet steif und fest, dass dieser Hund die Vögel erschreckt und sie vom Brüten abhält. Sie hat deswegen Anzeige erstattet. Und dann sind da noch die eine oder andere kleinere Angelegenheit. Ich muss mich um die wichtigen Dinge kümmern.» 

«Die wichtigen Dinge?», echote Ruddock. 

«Dass jemand auf dem Gebiet von Sir Jefferson Cobb gewildert hat, zum Beispiel.» 

«Natürlich», sagte Ruddock, «die wichtigen Dinge.» 

Der Kopf des Polizeichefs wurde rot. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen: Das, was Ruddock sagte, war eindeutig sarkastisch gemeint. 

«Die wichtigen Dinge», beharrte der Polizeichef. «Sir Jefferson Cobb, lassen Sie dies gesagt sein, hat mir wegen dieser Angelegenheit ein weiteres Mal geschrieben. Wir müssen eine Verhaftung vornehmen.» 

«Ich stelle mir vor, dass Sie bereits jemanden im Kopf haben, den wir verhaften müssen.» 

«Ich habe mindestens ein Dutzend Leute im Kopf, die man verhaften könnte», schnappte der Polizeichef. «Unglücklicherweise verlangt die Magistraten Beweise. Auch wenn Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Die Magistraten verlangen Beweise. Be-wei-se, bevor wir jemanden verhaften.» 

Der Polizeichef lehnte sich zurück und war zufrieden mit sich selbst. Wenn es sein musste, konnte auch er sarkastisch sein. 

Ruddock sagte nichts. Er nahm die Briefe, die auf dem Pult von des Polizeichefs lagen und begab sich mit ihnen zu seinem Pult. In diesen Moment jedoch läutete das Telefon. Mit einer unwirschen Handbewegung forderte Protheroe Ruddock auf, den Anruf entgegenzunehmen. 

«Polizeistation Eastrepps, Sergeant Ruddock», sagte dieser. Eine Weile schwieg er, dann meinte er: 

«Ich höre Sie sehr gut – Sie können ruhig etwas leiser sprechen, bitte.» 

Ruddock hörte weiter zu und wandte sich an den Polizeichef.  

«Colonel Hewitt ist am Apparat. Er verlangt nach Ihnen, Sir. Ein Mord.» 

«Was?» brüllte der Polizeichef. 

«Mord», wiederholte Ruddock ruhig. Aber der Polizeichef war bereits aufgestanden,  hatte das Zimmer durchquert und ihm den Hörer entrissen.  

«Hallo…hallo?» 

Sergeant Ruddock trat respektvoll zur Seite. Der Polizeichef war gezwungen, den Hörer weit von seinem Ohr entfernt zu halten. Die fast gebellten Worte des Obersten waren im ganzen Zimmer zu vernehmen. 

«Verdammt, Sir, wiederholen Sie doch nicht immer das, was ich sage… kommen Sie auf der Stelle zu dem Haus ‘The Hollies’, West Cliff… ich warte dort auf Sie und führe Sie hin.» 

Der Polizeichef wandte sich an Sergeant Ruddock. Seine Augen leuchteten.  

«Ruddock», sagte er, und es war ihm anzuhören, dass er sich zwingen musste, ruhig zu bleiben, «Ruddock, holen Sie Williams und Birchington; sie sollen mich begleiten.» 

Ruddock hatte bereits seinen Helm ergriffen.  

«Sie bleiben hier», stoppte ihn der Polizeichef.

«Hier?» wiederholte Ruddock ungläubig. 

«Muss ich alles zwei Mal sagen?», knurrte der Polizeichef. «Sie bleiben hier und halten die Stellung.» 

Ruddock schaute den Polizeichef so an, wie wenn er protestieren wollte. Dann aber besann er sich eines Besseren und schwieg. 

«Und die wichtigen Fälle?», fragte er schliesslich.  

«Kümmern Sie sich um sie», sagte der Polizeichef grosszügig. «Ich habe keine Zeit dazu.»