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Jalmari Finne

Schicksalshand

 

 

 

Leseprobe

 

KAPITEL I

Leena, die alte Bäuerin blickte zum Fenster hinaus. Auf der anderen Seite des Hofes sah sie ein Haus, das im Bau stand. Sie wusste, dass dort ihr Sohn Heikki daran war, die letzten Arbeiten vorzunehmen. Der Herbst war weit fortgeschritten, und wenn der Winter kam, musste das Haus fertiggestellt sein.

Hanna, die Frau von Heikki, stand beim Herdfeuer. Zusammen mit ihrem Kind, dem kleinen Heikki, achtete sie darauf, dass das Feuer nicht ausging. 

«Hast du es auch gehört?», fragte Leena.

«Was denn?», sagte Hanna.

«Ich hörte jemanden schreien.»

«Vielleicht hat Heikki gerufen. Ich gehe nachschauen.»

Hanna legte den Schürhaken zur Seite, den sie in der Hand gehalten hatte. Sie ging zum Vorhof und rief nach ihrem Mann.

«Heikki!»

Die alte Bäuerin Leena blickte aus dem Fenster. Eine Antwort hörte sie keine.

Plötzlich wurde es ihr schwer ums Herz.

«Heikki, Heikki!» rief Hanna erneut.

Es blieb still.

Durch das Fenster sah Leena, wie Hanna zum Gebäude rannte. Wenig später vernahm sie einen herzzerreissenden Schrei.

Leena putze ihre Hände an ihrer Schürze ab, verliess das Haus und eilte ebenfalls zum neuen Gebäude.

«Um Gottes Willen, kommt und hilf mir!» schrie Hanna.

Leena erblickte Heikki. Er lag auf der Erde. Aus seiner Brust ragte eine Eisenstange.

«Heikki stirbt», stöhnte Hanna.

Leena fühlte, wie ein kalter Schauer durch den ihren Körper drang. Gleichzeitig wurde sie von jener Ruhe ergriffen, die es den Frauen des Landes schon immer ermöglicht hat, das Richtige zu tun.

«Wir müssen die Stange herausziehen», sagte sie.

Vorsichtig zog Leena die Stange aus der Brust. Der Mann, der vor ihr auf dem Boden lag, öffnete seine Augen. Er sah seine Frau Hanna und seine Mutter Leena an. Aus seinem Mund und aus seiner zerfetzten Brust flossen Blut. Dann schloss er die Augen.

«Ich rufe den Arzt», sagte Leena. «Versuche das Blut zu stillen.»

«Wie soll ich dies tun?» fragte Hanna.

«Hole sauberes Leinen», befahl Leena. «Ich warte hier.»

Hanna lief weg. Leena blickte auf ihren Sohn Heikki, der vor ihr auf dem Boden lag. Sie wusste, dass der Arzt das Leben ihres Sohns nicht würde retten können. Ihr ging es durch den Kopf, dass der Hof nun in den Besitz ihres Enkels übergehen würde – ihres Enkels, der ebenfalls den Namen Heikki trug und der zehn Jahre alt war.

Mit einem Tuch in der Hand kehrte Hanna zurück. Leena half ihr beim Zudecken der Wunde und ging anschliessend weg, um den Arzt zu rufen. Jeder Schritt fiel ihr unendlich schwer: «Du musst einen Fuss vor den anderen setzen», sagte sie sich jedoch, «du darfst jetzt nicht zusammenbrechen.»

Sie kam in die Stube. Für einen Moment lehnte sie sich an eine Wand und ruhte sich aus. Dann ging sie weiter ins Nebenzimmer und ergriff den Telefonhörer.

«Verbinden Sie mich mit dem Arzt», sagte sie.

Wenig später vernahm sie eine Stimme:

«Beim Arzt.»

Leena erkannte die Stimme der alten Arzthelferin.

«Ist der Arzt da?» fragte Leena.

«Nein, er ist vor kurzer Zeit mit dem Auto weggefahren. Wer ist am Apparat?»

«Ich spreche vom Hof der Heikkis aus. Ein Unglück ist geschehen, und ich brauche den Arzt.»

«Er kommt bald zurück», meinte die Arzthelferin.

«Danke», sagte Leena und legte den Hörer auf.

Sie ging zum Gebäude zurück und rief sie nach Maria, der Magd.

Diese trat aus dem Stall, in welchem sie gearbeitet hatte.

«Komm und hilf uns», sagte Leena. «Heikki ist verunglückt. Wir sollten ihn ins Haus bringen. Wo ist Matti?»

«Heikki hat ihn vor einer Stunde ins Dorf geschickt. Er sollte Eisennägel kaufen», sagte Maria.

Leena und Maria eilten zum Gebäude.

«Du, Hanna, hältst ihn an den Füssen, ich halte ihn oben», sagte Leena.

Als sich die alte Bäuerin über den Mann am Boden beugte, ging ihr ein Satz durch den Kopf, den sie früher gehört hatte: Man steht es durch, wenn die Brust verletzt ist; man steht es nicht durch, wenn das Herz verletzt ist.

Langsam trugen die beiden Frauen ihre schwere Last ins Haus. Dort legten sie Heikki auf ein Bett.

«Kommt der Arzt?» wollte Hanna wissen.

«Er kommt später», sagte Leena.

«Jetzt liegt alles in den Händen Gottes», meinte Hanna.

Bald darauf hörten die beiden Frauen ein Auto. Leena schaut aus dem Fenster.

«Der Arzt ist da», sagte sie.

Aus dem Auto stieg der Arzt, ein alter, wortkarger und mürrischer Mann.

«Kommen Sie schnell, sagte Leena. «Mein Sohn ist verunglückt.»

Der Arzt sagte nichts. Er nahm aus dem Auto seine Arzttasche. Leena ging ihm voraus, und der Arzt folgte ihr. Als sie beim Bett angelangt waren, auf dem Heikki lag, sagte der Arzt lediglich:

«Wasser!»

Leena holte einen Waschzuber, goss Wasser ein und stellte den Zuber auf einen Stuhl vor dem Bett. Sie sah, wie der Arzt die blutigen Tücher austauschte.

Die alte Bäuerin Leena fühlte sich ungewöhnlich müde. Leise verliess sie das Zimmer. Sie setzte sich im Zimmer nebenan an das Arbeitspult des Sohnes, faltete die Hände und wartete. Sie hörte, wie der Arzt das Leinentuch ins Wasser liess. Sie hörte, wie er das Leinentuch auswand. Sie hörte das Wasser leise plätschern, als dieses ins Becken floss. Sie hörte, wie das Tuch erneut ausgewrungen wurde. Sie dachte an nichts. Sie wartete nur. Sie hörte, wie die Magd Maria das Zimmer verliess, ins Nebenzimmer ging und dessen Türe schloss. Leena wartete. Sie wusste, dass ihr Sohn tot war. Trotzdem wartete sie.

Nach einiger Zeit trat der Arzt aus dem Zimmer. Die Bäuerin blickte ihn an.

«Keine ärztliche Kunst hätte ihm helfen können», sagte der Arzt.

«Heikki ist tot», sagte Leena leise.

Sie sass bewegungslos da. Der Arzt nahm einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber.

«Was ist passiert?» fragte er.

«Heikki war beim neuen Gebäude», sagte Leena. «Ich war am Backen, als ich jemanden schreien hörte. Hanna ging nachschauen und rief kurze Zeit später um Hilfe. Heikki lag am Boden, und aus seiner Brust ragte eine Eisenstange. Er öffnete nochmals seine Augen, aber er sagte nichts mehr.»

«War er allein auf dem Bauplatz?» wollte der Arzt wissen.

«Er war sonst immer mit dem Knecht Matti zusammen. Aber Matti ist vor einer Stunde weggegangen, weil er im Dorf etwas zu erledigen hatte. Heikki war allein.»

«Heikki ist vermutlich gestürzt», meinte der Arzt.

«Er war gerade daran, die Zwischenwand zu errichten», sagte Leena. «Er muss sich mit seinen Füssen irgendwo verfangen haben und gestolpert sein.»

«Es war also ein Unglück?», fragte der Arzt.

«Es kann nichts anderes gewesen sein», bestätigte Leena.

Der Arzt schwieg. Dann meinte er bedächtig:

«Ich frage mich, ob Heikki nicht eben doch einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Hatte er Feinde?»

«Wie sollte er denn Feinde gehabt haben?» sagte Leena. «Ganz bestimmt gibt es niemanden, der ihn umgebracht hätte.»

«Ich lebe schon lange in dieser Gemeinde», entgegnete der Arzt, «und habe das eine oder andere gehört. Erinnern Sie sich an Janne Koski?»

«Natürlich», sagte Leena. «Er wollte meine Hanna zu seiner Frau nehmen. Weil er jedoch trank, hat Hanna ihn  zurückgewiesen. Janne hat später Heikki bedroht, und sie haben sich geprügelt. Aber das ist schon lange her. Janne ist unterdessen nach Helsinki gegangen, Wie ich gehört habe, arbeitet er dort als Maurer.»

«Ich habe ihn gestern im Dorf gesehen», sagte der Arzt.

 

aus:

Jalmari Finne

Kohtalon käsi. Romaani.

1929

gekürzt.

 

 

 

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