LESEPROBE
DER DIREKTOR, DER REPORTER UND DIE WUNDERBARE SONJA
Der Reporter Matti Kari sass in der Gaststätte und bestrich sein Schnitzel mit Senf. Da er nicht ganz bei der Sache war, tat er dies zweimal.
Als er den ersten Bissen des Schnitzels zu sich genommen hatte, tränten seine Augen. Er hustete und keuchte.
Der Mann, der Matti gegenüber sass, schmunzelte.
«Matti. Was ist los?»
«Sarvela», sagte Matti, als er wieder einigermassen normal sprechen konnte.
«Sarvela?», wollte Aarnio wissen.
«Genau», sagte Matti.
Aarnio war ein älterer Herr, dem seine grauen Haare ein würdiges Aussehen verliehen.
«Mein lieber Matti», meinte er väterlich. «Wenn ich dir helfen soll, musst du dich schon ein wenig genauer ausdrücken. Versuche, ein ganzes Sätzchen zu bilden.»
Matti riss sich zusammen.
«Also», sagte er. «Also. Wie du weisst, war ich auf dem Schiff unterwegs. Kurz bevor wir in Helsinki anlegten, sah ich einen Mann, der mir bekannt vorkam. Aber seinen Namen hatte ich vergessen Und jetzt ist mir in den Sinn gekommen, wer dieser Mann war: Sarvela.»
Aarnio pfiff leise.
«Soso. Sarvela. Und was weisst du über diesen Herrn Sarvela?»
Matti musste zugeben, dass er kaum etwas über diesen Herrn wusste – er erinnerte sich lediglich daran, dass er in eine Gaunerei verwickelt gewesen war.
Aarnio sah zwar so aus, wie ein freundlicher Opa, der mit seinen Enkelkindern spielt und der kein Wässerchen trüben kann. Doch dieser Eindruck täuschte. Aarnio war ein berühmter Anwalt. Er besass einen messerscharfen Verstand und war zudem mit einem enzyklopädischen Gedächtnis gesegnet – er erinnerte sich an alles, was er gesehen oder gehört hatte.
Das war auch diesmal der Fall. Und so kam es, dass Aarnio, wie dies seine Gewohnheit war, seine Augen halbwegs schloss und Matti zu berichten begann, was es über Sarvela zu sagen galt.
«Der Herr Direktor Sarvela ist ein Geschäftsmann. Vor einigen Jahren war er ein erfolgreicher Geschäftsmann – man könnte sagen: ein zu erfolgreicher Geschäftsmann. Denn der Erfolg stieg ihm zu Kopf und einige Geschäfte missrieten ihm gründlich.»
Matti nickte: «Soll vorkommen», meinte er.
Aarnio fuhr fort:
«Sarvela versuchte, dem Schicksal ein wenig nachzuhelfen und sich wieder auf die Erfolgsspur zu bringen – und das tat er, indem er den Pfad der Tugend verliess und sich in einige höchst zweifelhafte Geschäfte einliess.
Am Anfang sah dies recht harmlos aus. Sarvela gründete eine Fabrik. Eine Fabrik mit einem Hauptsitz und einigen Nebenstellen. In der Fabrik wurde inländischer Tee hergestellt.»
«Tee?»
«’Einheimischer Gesundheitstee’, wie Sarvela dies zu benennen beliebte. Zu dieser Zeit war Tee kaum erhältlich, und sein Preis war enorm. Nun ja. Der Tee, der in der Fabrik von Sarvela hergestellt wurde, wies zwar eine Farbe auf. Im Übrigen aber war er geruchslos und geschmacklos. Ich weiss dies, denn ich habe ihn ausprobiert. Auf der Verpackung stand, dass der Tee Erdbeerblätter und anderes Kraut enthalten würde – aber ich bin mir sicher, dass er lediglich irgendwelche Gräser enthielt, die man in einer Scheune auf dem Boden aufgelesen hatte.»
«Hatte er damit Erfolg?»
«Kaum. Der Tee hatte einen schlechten Ruf, und die Gewinnmarge war gering. Es hätte lange gedauert, bis der Herr Direktor Sarvela Millionär geworden wäre. Er beendete deshalb das Geschäft mit dem Tee und wandte sich einer anderen Branche zu: dem Senf.»
Matti hatte eben gerade schlechte Erfahrungen mit Senf gemacht und zuckte zusammen.
«Senf?», fragte er vorsichtig.
«Senf. Zu dieser Zeit konnte man guten Senf nur im Ausland erhalten. Sarvela stellte erbärmlichen Senf her und liess gefälschte Etiketten drucken – sie sahen praktisch gleich aus wie die Etiketten eines sehr bekannten, erstklassigen ausländischen Senfs. Die Etiketten leimte er auf Tuben, in die er ein Gemisch aus Maismehl und dergleichen Dinge füllte. Dieser ‘Senf’ brannte ganz gewiss nicht im Rachen, aber er war sehr teuer, und auch wenn die Fabrik nur eine kurze Zeit durchhielt, machte Sarvela einen netten Gewinn – einen viel grösseren Gewinn jedenfalls als mit dem Gesundheitstee.»
«Musste sich Sarvela nie dafür verantworten?»
«Dafür nicht. Doch als er auf die Idee kann, gefälschte Formulare zu drucken und mit diesen Formularen Tabaksteuer zu erheben, war er zu weit gegangen. Ich habe gehört, dass er verurteilt worden ist -eigentlich müsste er im Knast sitzen.»
Der Reporter Matti schnellte aus seinem Sessel hoch.
«Wie um alles in der Welt aber …? Warum sitzt der Mann nicht mehr im Gefängnis? Und wie kann er ein Geschäft führen? Und Kredite erhalten?»
Aarnio zuckte mit den Schultern.
«Mit dem Gefängnisaufenthalt eilt es nicht. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, und Sarvela ist alles in allem eben doch nur ein kleiner Fisch.»
«Da ist also ein Verbrecher auf dem Weg nach Helsinki», stellte Matti nüchtern fest.
«So ist es», bestätigte Aarnio.
«War er allein?», wollte er dann wissen.
Jetzt leuchteten Mattis Augen.
«Oh nein, das war er nicht. Er war in Begleitung einer jungen Frau – einer absoluten Schönheit! Einer Madonna, sage ich dir.»
Aarnio lächelte milde. Er wusste, dass sich Matti für schnelle Autos und noch mehr für junge und schöne Frauen begeistern konnte.
«Soso», sagte er, wie dies seine Gewohnheit war. «Und wer war denn diese umwerfende Schönheit?»
«Das weiss ich nicht. Von einem Schiffsoffizier erfuhr ich lediglich, dass sie Sonja Laiho heisst und eine Nichte vom Direktor Sarvela ist.»
«Interessant. Äusserst interessant», murmelte Aarnio. «Eine neue und interessante Konstellation.»
Für einige Zeit schwieg er und überlegte. Schliesslich fragte Matti:
«Bist du ein Reporter?»
Matti war verdutzt.
«Natürlich bin ich einer – und der schlechteste nicht, wenn ich dies so sagen darf. Warum fragst du?»
«Weil du», entgegnete Aarnio, «dich an die Fersen von Sarvela heften solltest. Sarvela ist nicht nach Helsinki gefahren, weil dies eine schöne Stadt ist. Er ist nach Helsinki gekommen, weil er etwas im Schilde führt.»
«Das mache ich natürlich!» versicherte ihm Matti.
Aarnio nickte und schaute Matti ernst an.
«Und noch etwas», sagte er.
«Was denn?» erkundigte sich Matti.
«Lasse dich von dieser umwerfenden Schönheit nicht in eine Falle locken. Sie mag ja eine wunderbare Frau sein, aber da sie mit Sarvela zusammen ist, müssen wir annehmen, dass auch sie in irgendwelche Gaunereien verwickelt ist – halte dich da raus.»
Matti war geradezu empört.
«Natürlich halte ich mich da raus. Ich bin ein Reporter, und ich vermag jederzeit Berufliches und Persönliches voneinander zu trennen. Auch wenn Sonja Laiho noch so schön ist – auf diese Schönheit falle ich nicht herein.»
Aarnio wusste, dass Matti diesbezüglich so seine Schwierigkeiten hatte, doch er schwieg und nickte nur.
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