LESEPROBE
Es war Herbst.
Draussen war es dunkel und still.
Ein Schuss fiel.
Dann war es wieder still.
Der Bauer vom Heikki-Hof las die Zeitung. Er liess sie sinken und lauschte.
«Hast du das gehört?» fragte er seine Frau.
Die Bäuerin legte ihre Näharbeit in den Schoss.
«Natürlich habe ich es gehört», antwortete sie. «Da hat jemand geschossen.»
«Wer war das?» sagte der Bauer.
Die Bäuerin erhob sich und ging zur Türe der Veranda. Dort blieb sie stehen und lauschte. Über den Vorplatz kam die Magd Kirsti zum Hof gerannt. Sie war ausser sich.
«Hat die Herrin den Schuss gehört?" fragte sie.
«Ich habe ihn gehört“, antwortete die Bäuerin. «Es tönte so, wie wenn ihn jemand von der Strasse her abgegeben hätte.»
Die beiden Frauen blieben für einen Moment stehen.
«Ich höre niemanden, der unterwegs ist“, sagte die Bäuerin. «Vielleicht waren es Betrunkene.»
Die Bäuerin kehrte zu ihrem Mann zurück.
«Man hört nichts mehr“, sagte sie.
Der Bauer vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Seine Frau setzte ihre Näharbeit fort.
Vom Vorplatz her ertönte ein Geräusch. Der Bauer und die Bäuerin erhoben sich erneut und rannten zur Veranda. Kirsti erschien wieder. Sie war bleich und lehnte sich gegen den Türpfosten.
«Ein Mann liegt auf der Strasse. Er bewegt sich nicht mehr. Er ist erschossen worden.»
Die Bäuerin und der Bauer rannten zur Strasse. Zwischen dem Hof und der Strasse befanden sich ein Zaun und eine Hütte, sodass der Bauer und die Bäuerin vom Hof her nicht sehen konnten, was auf der Strasse passiert war. Als sie zur Strasse kamen, erblickten sie drei Männer. Zwei von ihnen waren mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Es waren Väinö und Kalle, die Söhne vom Bauer des Nachbarshofs. Der dritte war Berg, der alte Schuhmacher. Er wohnte in einem kleinen Haus am anderen Ende der Strasse.
Berg beugte sich über den Menschen, der am Boden lag. Die Lampe eines Fahrrades spendete ihm dabei etwas Licht.
«Komm in Gottes Namen, Bauer, und schau die dies an», rief der Schuster.
«Matti ist erschossen worden.»
Der Bauer beugte sich ebenfalls über den Mann. Er öffnete dessen Mantel. Nahe beim Herzen war das Kleid zerrissen. Die Weste des Mannes war blutdurchtränkt. Der Bauer untersuchte den Körper des Mannes und sagte:
«Der Schuss ist nahe beim Herzen eingedrungen. Matti gibt kein Lebenzeichen mehr von sich. Hat jemand den Mörder gesehen?»
Väinö stand bleich und zitternd da. Er war bisher noch nicht in der Lage gewesen, etwas zu sagen. Mit Mühe und Not konnte er sich endlich äussern:
«Wir kamen vom Gemeindehaus her. Dort wurde gefeiert und wir haben getanzt. Als wir der Strasse entlangfuhren, sahen wir einen Mann am Boden liegen. Zuerst dachten wir, es sei ein Betrunkener.»
Kalle, der Bruder von Väinö, fuhr fort:
«Als wir näher kamen, sahen wir, dass es Matti war. Wir versuchten ihn aufzurichten, doch er hatte bereits das Bewusstsein verloren.»
«Dann kam ich dazu», erklärte der Schuster. «Ich wollte mich gerade zu Bett begeben, als ich den Schuss hörte. Zuerst schenkte ich ihm keine Beachtung. Ich dachte mir, er sei ein Betrunkener gewesen, der geschossen hat. Dann aber ging ich trotzdem nachschauen und traf die beiden Jungen an, die bei der Leiche standen.»
Der Bauer wandte sich an die Bäuerin und sagte:
«Rufe sofort den Polizeichef an und bitte ihn hierher zu kommen.»
Die Bäuerin eilte zum Hof zurück.
Der Bauer fragte die jungen Leute:
«Habt ihr jemanden wegrennen sehen?“
«Nein», gab Kalle zur Antwort.
«Der Mörder kann nicht weit gekommen sein. Ich habe einen Schuss gehört, und seither ist noch keine lange Zeit vergangen.»
«Ich bin mir nicht sicher», meinte der Schuster, «aber als ich vor die Türe trat, habe ich so etwas wie das Geräusch eines Autos gehört.»
«Uns ist kein Auto entgegengekommen», sagte Kalle. «Es hätte am Stall und an unserem Haus vorbeifahren müssen.»
«Hat jemand die Lichter eines Autos gesehen?“, fragte der Bauer.
«Das ist mir aufgefallen», meinte der Schuster. «Ich habe kein Licht gesehen. Ich vermute deshalb, dass ich mich wegen des Autos geirrt habe Als ich die Leiche sah, bin ich auch nicht dazu gekommen, mir dies genauer zu überlegen. Und dann ist es erst noch der künftige Schwiegersohn des Bauern, der da liegt.»
Alle schwiegen für einen Moment. Sie hatten gar nicht mehr daran gedacht, dass sich Matti demnächst mit Anna hätte vermählen sollen. Für sie ging es nun darum, Menschen zu helfen, denen etwas ganz Schlimmes zugestossen war.
Der Schuster sagte deshalb sehr freundlich zum Bauern:
«Tragen wir den Verstorbenen weg. Wir können ihn doch nicht auf der Strasse liegen lassen.»
«Wir müssen abwarten, was der Polizeichef sagt», meinte der Bauer. «Meine Frau hat ihm angerufen.»
Der Bauer wandte sich an einen jungen Mann mit hellen Haaren, der sich den Leuten genähert hatte, die um den Leichnam herumstanden.
«Antti – hast du den Schuss nicht gehört?»
«Natürlich habe ich ihn gehört», brummte Antti.
«Wo warst du denn?»
«Ich war im Stall.»
«Du bist nicht nach draussen gegangen, um zu schauen, wer geschossen hat?»
«Ich musste die Pferde füttern», sagte Antti.
«Habe ich dir nicht gesagt, dass du den Pferden nicht noch so spät Futter geben sollst?»
«Ich habe ihnen nur Wasser gegeben. Ausserdem ist der Wallach krank und ich wollte nach ihm sehen.»
«Kommst du aus dem Stall?», fragte der Bauer.
«Ja. Vorher habe ich den Verband am Bein des Pferdes gewechselt.»
Kirsti, die bis jetzt dagestanden hatte, ohne ein Wort zu sagen, blickte Antti durchdringend an:
«Du lügst!»
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