LESEPROBE

 

Der Richter sagte, ich sei ein Mörder. Dann verurteilte er mich zum Tode.

Nun sass ich in meiner Zelle Ich hörte die Turmuhr schlagen und wusste, dass ich noch 65 Stunden zu leben hatte.

Der Richter warf mir vor, dass ich meine Mutter und meine Schwester umgebracht hätte. Jetzt, wo ich den Richter nochmals vor meinen geistigen Auge sah, kam mir das alles absurd vor. Es kam mir dermassen absurd vor, dass etwas geschah, wofür ich mich zutiefst schämte: Ich begann haltlos zu lachen.

Wenige Sekunden später trat der Gefängniswärter ein. Es war ein finsterer Mann mit buschigen Augenbrauen, der mir gleich von Anfang an zu verstehen gegeben hatte, dass er mich als menschlichen Abschaum betrachtete. Auch jetzt musterte er mich böse, doch als ich ihn anschaute, sah ich in seinem Gesicht noch etwas anderes als Abscheu: Der Mann hatte Angst.

«Alles in Ordnung?», knurrte er. «Worüber lachen Sie?»

Eine Antwort konnte ich ihm nicht geben. Ich lachte weiter.

Der Gefängniswärter trat kurz in den Gang hinaus, schaute sich um und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann trat er wieder in die Zelle, sperrte diese ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Zellentüre.

«Eigentlich wollte ich warten, bis Sie Besuch vom Gefängnispfarrer erhalten haben. Jetzt aber muss ich mich beeilen.»

Ich wusste nicht, was er damit meinte.

«Ich werden Ihnen etwas sagen, worüber Sie sich wirklich freuen können», sagte der Gefängniswärter.

Ich sprang auf.

«Ich werde begnadigt!» schrie ich. Fast wäre ich dem Wärter um den Hals gefallen.

Der Gefängniswärter aber ballte seine Fäuste und trat einen Schritt auf mich zu.

«Halten Sie die Schnauze», herrschte er mich an. «Wenn Sie nicht sofort still sind, verprügle ich Sie, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht.»

Ich setzte mich wieder auf mein Bett in der Zelle.

«Gauner wie Sie werden nicht begnadigt», erklärte der Gefängniswärter. «Wenn jemand Sie begnadigt, bin ich dies. Und ich werde Ihnen erklären, wie dies geht. Aber nur, wenn Sie still sind und nicht mehr wie ein Waschweib lachen und quietschen.»

Er setzte sich so nahe neben mich, dass ich seine Atem riechen konnte, der nach Whiskey roch.

«Jemand, der es gut mit Ihnen meint», flüsterte er mir zu, «hat mir ein hübsches kleines Sümmchen angeboten, und zwar dafür angeboten, dass ich Ihnen zur Flucht aus dem Gefängnis verhelfe.»

Ich wollte wissen, wie er dies zu bewerkstelligen gedachte. Der Gefängniswärter erklärte es mir.

«Ich bringe Ihnen eine Wärteruniform», meinte er. "Diese ziehen Sie sichban. Um 9 Uhr am Abend ist meine Schicht zu Ende und ein anderer Wärter übernimmt die Aufsicht. Ich verlasse das Gefängnis und Sie kommen mit mir. Wir gehen zu mir nach Hause, wo Sie neue Kleider erhalten und wo ich Ihnen auch sage, was Sie zu tun haben.»

«Das geht doch nicht», protestierte ich. «Der andere Wärter wird dies nicht zulassen!»

«Er ist auf meiner Seite», meinte der Gefängniswärter lakonisch.

«Man wird Sie und Ihren Kollegen zum Teufel jagen, wenn mir die Flucht gelingt.»

«Sollen sie doch – ich für meinen Teil habe ausgesorgt», sagte der Gefängniswärter und grinste hämisch.

Ich war verwirrt. In ganz England gab es vermutlich nur ein einzige Person, die an meine Unschuld glaubte – das war meine Verlobte Janet Chillmark. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie meine Flucht hätte arrangieren können.

Ich bestürmte den Wärter mit Fragen. Beantwortet wurden sie kaum. Ich erfuhr lediglich, dass ‘mein Freund’, wie der Wärter ihn nannte, auf mich in einer Spelunke mit dem Namen ‘Pilot’s Rest’ warten würde.

Mehr sagte er nicht. Er verliess meine Zelle, schloss sie ab und machte sich auf seinen üblichen Rundgang. Ich blieb zurück und erlebte die schrecklichsten Stunden meines Lebens. Ständig verfolgte mich der Gedanke, dass sich der Gefängniswärter einen makabren Scherz mit mir erlaubt hatte.

Ich hielt die Spannung fast nicht mehr aus. Mit jedem Glockenschlag, den ich von der Turmuhr hörte, wuchs meine Angst, dass das alles nur ein Traum sein könnte.

Um 9 Uhr aber erschien der Gefängniswärter. Er wurde von seinem Kollegen begleitet, der die Wache übernehmen würde. Der Gefängniswärter hatte zwei Kittel der Wärteruniform übereinander angezogen. Einen davon zog er aus und überreichte ihn mir. Gleich ging sein Kollege vor. Dieser trug zwei Paar Hosen übereinander – ein Paar ging an mich. Schliesslich zauberte der Kollege ein Paar Schuhe und ein Uniformmütze hervor, die ebenfalls für mich gedacht waren.

Auf den nächsten Zeilen werde ich erzählen, was mir in nach meiner Flucht widerfahren sollte. Ich erspare mir deshalb die Details dieser Flucht und halte lediglich fest, dass sie reibungslos verlief: Zusammen mit dem Gefängniswärter spazierte ich aus dem Gefängnis. In der Wohnung des Wärters zog ich mir die Kleider an, die er für mich bereitgehalten hatte. Zudem erhielt ich etwas Geld.

«Kein Grund, nervös zu werden», beruhigte mich der Wärter. «Mein Kollege wird erst am Morgen den Alarm auslösen und verkünden, dass Sie geflohen sind. Bis dann haben Sie Ruhe, und bis dann haben Sie auch Ihren Freund kennengelernt.»

Er gab mir seine Anweisungen:

«Nochmals: Sie suchen das ‘Pilot’s Rest’ in Southampton auf. Es liegt an der Backwater Street. Geben Sie sich als ‘Mr. Tennant’ zu erkennen und fragen Sie nach einem Herrn Herzog.»

Als ich auf der Strasse stand, wurde ich nervös. Die ersten paar Schritte waren entsetzlich. Ich hatte das Gefühl, alle Leute würden mich als den verurteilten Mörder erkennen. Mehr als einmal blieb ich stehen und schaute zurück, ob mich jemand verfolgte. Das war jedoch nicht der Fall. Trotzdem war ich schweissgebadet, als ich am Bahnhof ankam.

Ich hatte eine Fahrkarte für die erste Klasse gekauft und hoffte, dass ich allein in meinem Abteil sitzen würde. Dem war allerdings nicht so, denn kurz vor der Abfahrt betrat ein gutgekleideter Herr mein Abteil und liess sich schwer atmend in seinem Sitz nieder. Er schenkte mir keine weitere Beachtung, sondern nahm zu meiner Freude eine Zeitung hervor und begann sie zu lesen.

Als wir in Southampton angekommen waren, verliess er vor mir den Zug und verschwand in der Menge. Ich aber stand auf dem Bahnsteig und machte mich auf den Weg zu dem Gasthof ‘Pilot’s End’.

Der Gasthof lag am Ende einer Strasse. Es war ein eher schäbiges Gebäude, und ich vermutete, dass es von den niederen Dienstgraden der Marine benutzt wurde.

Die Theke lag im Dunkeln. Hinter ihr stand eine ältere Bardame, die interessiert zwei Matrosen zuhörte, die miteinander in Streit geraten waren.

«Mr. Herzog», liess sie als Antwort auf meine Frage vernehmen. «Mr. Herzog ist vor einer halben Stunde eingetroffen. Wenn Sie Mr. Tennant sind, gehen Sie die Treppe hoch und klopfen Sie an die zweite Türe links. Mr. Herzog erwartet Sie.»

«Kam er in Begleitung einer Dame?», fragte ich. Das tat ich, weil ich hoffte, dass Janet eben doch hinter meiner wundersamen Rettung stand. Die Bardame schüttelte den Kopf. Ich ging zur Türe im ersten Stock und klopfte an. Eine energische Stimme forderte mich auf einzutreten.

Ich öffnete die Tür und erstarrte. Vor mir stand der Mann, der mir im Zug gegenüber gesessen hatte.

Er grinste.

 

 

Aus Joni Murhata.  Töte ihn - sonst wirst du sterben.

 

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